Das Wort „Kanaltal“ hat im Deutschen einen schalen Beigeschmack. Kanal klingt heute eindeutig nach Abwasser und symbolisiert somit das Gegenteil von dem was das Tal zwischen den Julischen und Karnischen Alpen bietet. Das Kanaltal wurde aus dem Friulanischen „Chianàl“ – schlauchartiges Bergtal- ins Italienischde „Val Canale“ übernommen. Ins Deutsche folgte die Übersetzung „Kanaltal“. Dabei hat dieses wunderschöne Tal mit einem Kanal in unserem Sinne gar nichts zu tun. Hohe felsige Berge, weitläufige Quertäler, wildromantische Wasserfälle und die Fella selbst sind Naturschönheiten ersten Ranges. Um die Übersetzungunschärfen auszugleichen, habe ich für mich beschlossen, das Kanaltal ab heute in „Tal der Fella“ umzubenennen.
Die erste Pause mache ich am alten Bahnhof von Chiusaforte. Das kleine, verschlafene Dorf liegt an der Fella und die alte, zum Wanderweg umgebaute Eisenbahnstrecke führt oberhalb vorbei. Chiusaforte hat nur mehr ein paar Hundert Einwohner. In der Kaiserzeit war es viel bedeutender. 3000 Menschen bewohnten die Engstelle zwischen der Fella und dem Neveasattel. Davon zeugt auch der riesige Duomo, der so einem kleinen Örtchen nicht angemessen ist. Er thront auf einem großen Felsen über dem Ortszentrum. Beim Aufstieg entdecke ich im Fels ein Figurenspiel, das ich mir aber nicht erklären kann.
Wer viel geht, muss auch trinken und essen. Eine wohlschmeckende, regionale Spezialität des Friauls ist der Frico. Nie gehört? Ich kenne das Gericht auch erst seit einigen Jahren. Er ist sehr ist eine bodenständige Köstlichkeit und eine richtige Kraftnahrung. Vielleicht wurden früher Holzfäller nach einem schweren Tag am Waldhang damit wieder aufgepäppelt? Das kalorienreiche Essen besteht aus zerstampften Erdäpfeln und beigemischtem friulanischem Käse. Jeder Koch, jede Hausfrau hat dann noch ihr eigenes, geheimes Rezept der Kräuter- und Zwiebelabstimmung. Eines ist auch klar: Olivenöl gehört unbedingt dazu, wenn die Teigmasse in der Pfanne gebraten wird. Beidseitig leicht bräunlich schmeckt der Frico am besten.
Mein heutiges Hauptziel ist die Stadt Pontebba. Vor hundert Jahren und mehr eine wichtige Grenzstadt zwischen dem Königreich Italien und der k & k Monarchie Österreich-Ungarn. „Pontebbana“ heißt der alte Grenzfluss, der das italienische Pontebba von der österreichischen Ortschaft „Pontafel“ bis 1918 trennte. Heute sind beide Orte eine Gemeinde. Pontafel gibt es nicht mehr.
Wer genau schaut, kann auch noch den alten Grenzstein an der Brücke entdecken. Er steht von Süden kommend in deutscher Sprache rechts nach der Brücke und auf italienisch links nach der Brücke. Das Friaul ist der einzige Punkt in ganz Europa wo alle drei Volksstämme Europas aufeinander treffen und jahrhundertelang in völliger Eintracht nebeneinander friedlich gelebt haben. Nirgends sonst in Europa treffen die Romanen mit Italien, die Germanen mit Österreich und die Slawen mit Slowenien direkt aneinander. Die Sprachenvielfalt ist eines der positiven Ergebnisse, der guten Nachbarschaft. Ich kenne nicht wenige Friulaner, die erstens friulanisch, zweitens italienisch, drittens deutsch, viertens slowenisch und fünftens englisch – zumindest der Verständigung nach – sprechen.
Auf dem Friedhof in Pontebba befindet sich neben vielen anderen Gräbern das Grab des Salzburger Schützen Anton Schwärzler. Er war als 17-jähriger freiwillig für den Kaiser an die Südfront eingerückt. Doch schon bald ereilte ihn das Schicksal des „Heldentodes“. Am 29. September 1915 fiel er bei Kampfhandlungen mit Italien. Eines von so vielen tragischen Schicksalen von jungen Männern in dieser schweren Zeit. Erst fast hundert Jahre später wurde die Familie durch die in der Kronenzeitung veröffentlichten Recherchen des Redakteurs Wolfgang Weber auf den Verbleib ihres Anverwandten aufmerksam.